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1. Leitgedanken zum Kompetenzerwerb
1.1 Bildungswert des Faches
Die Welt ist nicht da, um von uns erkannt zu werden, sondern uns an ihr zu bilden.
– G. C. Lichtenberg –
Schülerinnen und Schüler lernen im Philosophieunterricht strukturiert zu denken und kritisch zu reflektieren. Sie erfahren dadurch einen auch für die Bewältigung außerschulischer Anforderungen bedeutsamen Autonomiezuwachs.
Philosophieren befähigt sie dazu, vermeintliche Gewissheiten, allgemeine Vor-Meinungen des Alltagsverstandes und vorgefundene Deutungen der Wirklichkeit zu hinterfragen und über wissenschaftliche Konzepte, auch diejenigen anderer Unterrichtsfächer, nachzudenken. Die Schülerinnen und Schüler üben den Gebrauch bestimmender wie reflektierender Urteilskraft und können über mögliche Grenzen des menschlichen Vernunftvermögens spekulieren, zum Beispiel in Bezug auf Methoden einzelwissenschaftlicher Erkenntnis oder das Perspektivische unterschiedlicher Rationalitätsformen.
Schülerinnen und Schüler können Weisheitslehren verschiedener Epochen und Kulturen erproben, bei der Suche nach Einsicht ihrer intellektuellen Neugier nachgehen und im Diskurs differenzierende Toleranz erfahren.
Im Philosophieunterricht setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit grundsätzlichen Fragen – wie zum Beispiel die nach ersten Ursachen und letzten Zielen und Zwecken – auseinander, die ihr Verstehen vom eigenen Selbst, vom Menschen an sich und der Wirklichkeit im Ganzen betreffen.
Sie lernen, ihre eigenen Gedanken darzustellen, zu klären und methodisch zu entwickeln, indem sie kategoriales Wissen und Verfahren der Begriffs- und Argumentanalyse anwenden, und auch, indem sie Problemlösungsvorschläge unterschiedlicher Denkrichtungen der Ideengeschichte nachvollziehen und kritisch prüfen.
Im Rahmen einer humanistischen Disziplin wird die Fähigkeit zu interdisziplinärem Denken erworben.
Beitrag des Faches zu den Leitperspektiven
- Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
Philosophieunterricht fördert grundsätzlich Orientierung und Urteilsfähigkeit als Voraussetzung für Verantwortung und Engagement. Urteilsfähigkeit wird besonders bei den Kompetenzbereichen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie Philosophie des Geistes, der Sprache und Metaphysik gefördert. Beim Kompetenzbereich Sozial- und Politische Philosophie geht es um Fragen der Gerechtigkeit, der Teilhabe, der Demokratie sowie der Urteilsbildung in Zukunftsfragen im Prozess des Abwägens zwischen unterschiedlichen Werten und Zielen. Die hierfür notwendige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen kulturspezifischen und universalen Werten und Normen kann innerhalb des Kompetenzbereiches Kulturphilosophie und Kulturanthropologie gefördert werden. Weiterhin kann die Auseinandersetzung mit philosophischen Weisheitslehren zu einem bewusst ressourcenschonenden Lebensvollzug anleiten. - Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)
Philosophieunterricht fördert grundsätzlich Orientierung und Urteilsfähigkeit als Voraussetzung für reflektierte und differenzierte Toleranz. Sprachsensibilität und transkulturelle Dialogorientierung können im Rahmen des Kompetenzbereiches Philosophie der Sprache gefördert werden. Die hierfür notwendige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen kulturspezifischen, transkulturellen und universalen Werten und Normen kann innerhalb des Kompetenzbereichs Kulturphilosophie und Kulturanthropologie stattfinden, ergänzt durch Reflexionen zu Fragen der Gerechtigkeit und der Teilhabe beim Kompetenzbereich Sozial- und Politische Philosophie. - Prävention und Gesundheitsförderung (PG)
Im Philosophieunterricht werden Prozesse philosophischer Reflexion über grundsätzliche Fragen eingeleitet, die weit über konkrete gesellschaftliche und einzelwissenschaftliche Fragen hinausgehen. Durch die gedankliche Klärung solcher Fragen werden die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützt, ihre eigenen Gedanken methodisch zu entwickeln. Zugleich gewinnen sie eine Orientierung im Denken, indem sie aus dem Korridor vermeintlicher Gewissheiten heraustreten und durch die Erfahrung der daraus resultierenden gedanklichen Freiheit dabei unterstützt werden, das individuelle und gesellschaftliche Leben im Sinne einer Selbstsorge vernunftorientiert zu gestalten. Da sie ihre gewonnenen Einsichten in aller Regel der Überprüfung in der Gruppe aussetzen, um schrittweise zu einem Konsens der Auffassungen in der zugrunde liegenden Frage zu gelangen, ist neben den Aspekten der Begründung von Handlungen und Beziehungsgestaltungen sowie des Umgangs mit Gefühlen insbesondere auch das wertschätzende Kommunizieren in einem lebendig-dialogischen Austausch im Bildungsplan Philosophie verankert. Dieser ist in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, die von zunehmender Anonymisierung geprägt ist, von besonderer Bedeutung. - Medienbildung (MB)
Medienbildung wirft zum einen auf einer grundsätzlich anthropologischen Ebene die Frage nach den kulturellen Konsequenzen medialer Praktiken auf; dazu gehören mediale Praktiken wie die vermeintliche Kooperation und die mögliche Kommunikation zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz. Zum anderen werden die Aspekte Mediengesellschaft und Medienanalyse dahingehend hervorgehoben, dass die kritische Prüfung von Interpretationsvorschlägen unterschiedlicher Denkrichtungen der Ideengeschichte in aller Regel auf der Basis einer Analyse von Texten beziehungsweise vielfältigen anderen Medien erfolgt. Schließlich gilt es insbesondere in Zeiten, in denen die Schülerinnen und Schüler sich einer überwältigenden Menge von Daten und Wissensbeständen sowie einem zunehmenden Einfluss von Faktenpositivismus und Fake News ausgesetzt sehen, auf einer ganz grundlegenden Ebene zu klären, was genau mit Wissen gemeint ist, und Wissensansprüche durch gute Gründe abzusichern. Dieser Reflexion über grundsätzliche Fragen nach der Natur und Möglichkeit von (wissenschaftlichem) Wissen wird durch den Verweis auf den Aspekt Information und Wissen Rechnung getragen.
1.2 Kompetenzen
Prozessbezogene Kompetenzen
Eine philosophische Problemreflexion erfordert, dass phänomenologisches Beschreiben und kritisches Hinterfragen, hermeneutisches Rekonstruieren und logisches Analysieren sowie dialektisches Prüfen und reflektiertes Beurteilen expliziter oder impliziter philosophischer Positionen geschult werden. Notwendiger Bestandteil ist bei allen genannten Prozessen die Fähigkeit des Entwickelns und Darstellens sowohl der eigenen Gedanken als auch der Gedanken anderer in mündlicher und schriftlicher Form. Deswegen ist „Entwickeln und darstellen“ (2.1) allen anderen prozessbezogenen Kompetenzen (2.2 bis 2.4) vorangestellt. Prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen sind nicht voneinander zu trennen und daher so konzipiert, dass sie in der Unterrichtspraxis selbstverständlich zu verbinden sind. Deshalb ist beim Erwerb der inhaltsbezogenen Kompetenzen nicht immer eine isolierte Zuordnung einzelner prozessbezogener Kompetenzen möglich.
Inhaltsbezogene Kompetenzen
Bezugspunkte für die Auswahl der Kompetenzbereiche bilden die aktuelle Fachsystematik sowie die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf relevante und motivierende philosophische Fragestellungen. Allerdings kann in einem einjährigen zweistündigen Philosophiekurs nur eine sehr begrenzte Auswahl von inhaltsbezogenen Kompetenzen reflektiert werden. Aus diesem Grund sind diese so konzipiert, dass innerhalb eines Kompetenzbereichs verschiedene fachphilosophische Disziplinen miteinander verbunden werden können. So können zum Beispiel im Kompetenzbereich Kulturphilosophie und Kulturanthropologie auch Fragen der Ästhetik, der Medien- und der Geschichtsphilosophie reflektiert werden; im Kompetenzbereich Philosophie des Geistes, der Sprache und Metaphysik können auch Fragen der Existenzphilosophie reflektiert werden. Fragen der Moralphilosophie sind nur teilweise innerhalb der Kompetenzbereiche verortet, da eine vertiefte Auseinandersetzung bereits in Ethik und in den Religionslehren stattfindet.
Diese verschiedenen Kompetenzbereiche sind nicht notwendigerweise in der vorgegebenen Reihenfolge zu behandeln. Innerhalb dieser sind Schwerpunktsetzungen notwendig und Verknüpfungen möglich.
Anhand der am Fuß der jeweiligen Seite angeführten exemplarischen Autorinnen und Autoren können die inhaltsbezogenen Kompetenzen erworben werden.
1.3 Didaktische Hinweise
Der Philosophieunterricht orientiert sich nicht abbilddidaktisch primär an aktuellen fachwissenschaftlich-systematischen Vorgaben und zielt auch nicht primär auf philosophiehistorische Instruktion. Er ist vielmehr problemorientiert, wobei die lebensweltlich induzierte Erschließung philosophischer Problemfragen, die Ermittlung intuitiver Lösungsansätze sowie die angeleitete Erarbeitung, Erörterung und Beurteilung exemplarischer Problemlösungsvorschläge der philosophischen Tradition zentral sind. Problemorientierung impliziert das Erfassen von Präkonzepten, die Schülerinnen und Schüler bezüglich zu behandelnder Kompetenzbereiche mitbringen, ein hermeneutisch-analytisches Klären fachlicher Inhalte sowie eine dialogisch-argumentative und dialektisch auf unterschiedliche Positionen bezogene Auseinandersetzung mit dem Ziel logisch konsistenter eigener Positionierung, die auch in einer reflektierten Vorläufigkeit oder Urteilsenthaltung bestehen kann.
Philosophisches Lernen beinhaltet über einen Zuwachs an kategorialem Wissen hinaus den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die eigenen Präkonzepte, die das Denken über das eigene Selbst, über Gesellschaft, Natur und Wirklichkeit im Ganzen organisieren, durch alternative Konzeptionen zu ergänzen, zu verändern oder zu ersetzen; und dies möglichst durch wiederholtes argumentatives Abgleichen von Einzelurteilen und allgemeinen Urteilen mit dem Ziel der Annäherung an ein Überlegungsgleichgewicht.
Die Auswahl von philosophischen (Primär‑)Texten richtet sich danach, wie relevant, exemplarisch, zugänglich, lebens- und zukunftsdienlich diese im Hinblick auf die zu behandelnde Problemfrage und eine mögliche Konzeptmodifikation erscheinen.
Wichtiger als eine obligate Phasengliederung und Methodenvarianz ist, dass der Philosophieunterricht in seiner Tiefenstruktur für Lernende und Lehrkraft als kooperative Praxis erfahren wird, bei der die Teilnehmenden sich kontinuierlich über ihre Denkprozesse, über begrifflich-argumentativ gewonnene Einsichten und neu erworbene Perspektiven verständigen. Für die fachmethodische Planung und Durchführung des Philosophieunterrichts ist Methodenvarianz somit kein Selbstzweck, sondern es ist individuell auch mit Blick auf die Lerngruppe und die Persönlichkeit der Lehrkraft zu prüfen, inwiefern sich einzelne Verfahren (wie zum Beispiel (neo‑)sokratische und andere Gesprächsformen, Gedankenexperiment, Bild‑, Film‑, Texterschließung, Begriffsexplikation und Argumentanalyse, Schreiben philosophischer Tagebucheinträge oder Essays, szenische beziehungsweise theatrale Umsetzungen) eignen, bestimmte prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen zu fördern.
Eine besondere Herausforderung des Philosophieunterrichts besteht darin, das fachdidaktische Prinzip eines Wechselspiels zwischen Anschaulichkeit und Abstraktion umzusetzen: Die Befähigung von Schülerinnen und Schülern zum selbstständigen und kritischen Umgang mit abstrakten Konzepten erfordert den wohlgeplanten Gebrauch geeigneter (Gegen‑)Beispiele, die philosophische Konzeptionen erschließen, plausibilisieren, überprüfen oder falsifizieren lassen.