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1. Leitgedanken zum Kompetenzerwerb
1.1 Bildungswert des Faches Alevitische Religionslehre
Durch die wachsende ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt in der Bevölkerung und durch zunehmende familiäre Verbindungen von Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen sowie interkultureller und interreligiöser Begegnung und Integration in Deutschland, erfährt die Alevitische Religionslehre eine besondere Bedeutung. Der Alevitische Religionsunterricht fördert ein gutes Zusammenleben von Aleviten und Andersgläubigen in Gleichberechtigung, Frieden und gegenseitiger Achtung und Wertschätzung. Er trägt damit zur Werteerziehung der Kinder bei. Diese werden befähigt, ihren Glauben, ihre Tradition und ihre Kultur gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zu vertreten und deren Anderssein wahrzunehmen.
Das alevitische Menschen- und Weltbild versucht durch seine Nähe zum modernen freiheitlich-demokratischen und pluralistischen Gesellschafts- und Staatsverständnis eine Antwort auf die aktuellen, gesellschaftlichen Herausforderungen zu geben. Die Alevitische Religionslehre ermöglicht Erfahrungen mit Demokratie, Freiheit und Pluralität und befähigt Schülerinnen und Schüler, ihre Minderheitenposition sachgerecht zu vertreten und Grundkompetenzen für ein friedliches Zusammenleben zu erwerben.
Der Religionsunterricht unterstützt die Entwicklung einer alevitischen Identität. Die Schülerinnen und Schüler erfahren Orientierungen und Hilfestellungen auf der Suche nach einer eigenen Lebensausrichtung. Die Alevitische Religionslehre trägt dazu bei, die Glaubensinhalte und Tradition des Alevitentums als Deutungsangebot für das eigene selbstverantwortete Leben und Zusammenleben mit anderen Menschen zu nutzen. Damit einhergehend werden die Entwicklung von Selbstbewusstsein, Selbstachtung, Eigeninitiative, Verantwortungsbewusstsein, Kreativität, Phantasie und Solidarität bei den Kindern angestrebt. Der Gleichberechtigung der Mädchen und Jungen kommt eine besondere Bedeutung zu. Diese wird im Unterricht thematisiert, konkretisiert und verinnerlicht.
Rechtsgrundlage
Die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. (AABF) mit Sitz in Köln, vertritt seit 1991 in Deutschland lebende Aleviten. Sie definiert sich als eine Glaubensgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Nach Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und nach Artikel 18 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg wird Religionsunterricht an öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften von deren Beauftragten erteilt und beaufsichtigt. Die Alevitische Gemeinde Deutschland ist an mehreren Orten so stark vertreten, dass die Voraussetzungen gegeben sind, um nach § 96 Abs. 3 des Schulgesetzes für Baden-Württemberg Religionsunterricht einzurichten. Die fachliche Aufsicht über den Alevitischen Religionsunterricht wird von der Alevitischen Gemeinde Deutschland durch alevitische Schulbeauftragte in Baden-Württemberg wahrgenommen.
Sprache des Alevitischen Religionsunterrichts
Die deutsche Sprache ist Voraussetzung für jeden interreligiösen Dialog in diesem Land. Es besteht aber die Notwendigkeit, einige Grundbegriffe wie zum Beispiel Allah/Hak, Cem, Semah, Aşure, Ana/Dede – im Ursprung – wie sie in der alevitischen Literatur vorzufinden sind – beizubehalten. Es ist unabdingbar, dass die grundlegenden Texte zum Glauben – wie das Buch Buyruk – und religiöse Dichtungen alevitischer Gelehrter in deutscher Sprache kindgerecht vermittelt werden.
Beitrag des Faches zu den Leitperspektiven
In welcher Weise das Fach Alevitische Religionslehre einen Beitrag zu den Leitperspektiven leistet, wird im Folgenden dargestellt:
- Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
Der Alevitische Religionsunterricht trägt zur Bildung für nachhaltige Entwicklung bei, indem er vor allem im Bereich „Mensch“ die Naturverbundenheit in den Vordergrund stellt und die Kinder zunehmend befähigt, verantwortungsvoll und nachhaltig mit den Ressourcen der Erde umzugehen. - Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)
Liebe zum Menschen, Respekt, Toleranz, Antidiskriminierung, Solidarität sowie die gegenseitige Achtung und die Wertschätzung von Vielfalt und Verschiedenheit als Inhalte des alevitischen Religionsunterrichts, unterstützen diese Leitperspektive. Im Alevitischen Religionsunterricht sind Erfahrungen zu Demokratie, Freiheit und Pluralität konkret den Bereichen „Weg“ beziehungsweise „Haus und Ordnung“ zugeordnet. Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei, dass das Erreichen dieser Schlüsselqualifikationen ein friedliches Miteinander unterstützt. - Prävention und Gesundheitsförderung (PG)
Der Alevitische Religionsunterricht trägt dazu bei, den eigenen Körper selbstregulierend und wahrnehmend kennenzulernen. Somit werden Grundlagen für einen gesunden Körper und Geist gelegt. Konkret werden diese Fähigkeiten bei den Themen Fasten, „Semah“ und „Lokma“ erworben. - Medienbildung (MB)
In unserer Mediengesellschaft ist eine sachgerechte und altersspezifische Medienbildung von großer Bedeutung. Der Alevitische Religionsunterricht setzt alevitische Ausdruckformen wie zum Beispiel Lieder, Dichtungen, Erzählungen, Bilder und Fürbitten sowie weitere Text‑, Film- oder Bildquellen ein, um den Schülerinnen und Schülern Zugänge zum Alevitentum zu eröffnen. Dabei lernen sie den Umgang mit Medien und nutzen Medien ihrerseits auch als Mittel zur Kommunikation, Kooperation, Produktion und Präsentation. - Verbraucherbildung (VB)
Die Leitperspektive „Verbraucherbildung“ greift konkrete Themen im Leben der Schülerinnen und Schüler auf und umfasst Themenbereiche wie zum Beispiel den Umgang mit eigenen Ressourcen, Bedürfnissen und Wünschen und dem Alltagskonsum. Der Alevitische Religionsunterricht unterstützt dabei die Schülerinnen und Schüler, Verantwortung für ihr Konsumverhalten zu übernehmen.
1.2 Kompetenzen
Prozess- und inhaltsbezogene Kompetenzen sind stets zusammen zu denken. In ihrer Zusammenführung werden sie zu einem „Gewebe“, das – bezogen auf die Situation vor Ort und auf die Bedürfnisse der Kinder – individuell verfeinert und weiter gewoben wird.
Prozessbezogene Kompetenzen
- Wahrnehmen und Darstellen
Die Schülerinnen und Schüler können erste Antworten auf religiös bedeutsame Fragestellungen geben. Sie können Riten und Traditionen emotional erleben und sich damit auseinandersetzen. - Deuten
Die Schülerinnen und Schüler können erste eigene Deutungen anhand religiöser Ausdrucksformen formulieren und diese in ihr Lebensumfeld integrieren. - Urteilen
Die Schülerinnen und Schüler können anhand konkreter Situationen unterschiedliche Meinungen und Haltungen zu religiösen und ethischen Fragestellungen vergleichen und dabei eine eigene Position einnehmen und begründen. - Kommunizieren und Dialogfähig-Sein
Die Schülerinnen und Schüler können menschliche und interreligiöse Vielfalt respektieren und wertschätzen, eigene Gefühle, Gedanken und Meinungen ausdrücken und sich so positionieren. - Gestalten und Handeln
Die Schülerinnen und Schüler können ihr Leben und das Zusammenleben aus alevitischer Perspektive gestalten und dabei zusätzliche Handlungsmöglichkeiten integrieren.
Dazu ist es erforderlich, dass die Schülerinnen und Schüler in der Lage sind,
- den alevitischen Weg in Inhalt und Darstellung als Ausdruck gültiger Glaubens- und Lebensform wahrzunehmen;
- ihren Glauben, ihre Tradition und ihre Kultur gegenüber ihren andersgläubigen Mitschülerinnen und Mitschülern zu vertreten und zugleich deren Anderssein zu respektieren und zu verstehen;
- mit Angehörigen anderer Religionen und Weltanschauungen ins Gespräch zu kommen;
- eigene Gefühle und Lebenserfahrungen zur Sprache zu bringen und diese mit den anderen Menschen zu vergleichen;
- alevitische Überlieferungen in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit zu untersuchen und gegebenenfalls zu integrieren;
- Regeln zu erkennen, ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls im Sinne des alevitischen Verständnisses von Einvernehmen (Rızalık) zu verändern;
- Aufgaben zu erfassen, Sachverhalte zu recherchieren, Inhalte zu erschließen, Lernprozesse selbstständig zu organisieren, sowie Erkenntnisse und Ergebnisse zu präsentieren.
Inhaltsbezogene Kompetenzen
Die Schülerinnen und Schüler erfahren, dass die Kultur der Aleviten in Deutschland von der alevitischen Tradition in der Türkei geprägt ist. Gleichzeitig lernen sie, die kulturelle Tradition ihrer Eltern beziehungsweise Großeltern in der christlich geprägten deutschen Gesellschaft zu leben. Die Kinder werden befähigt, durch Respekt und Toleranz gegenüber anderen, Formen von Religion und Kultur am Leben in der pluralistischen Gesellschaft teilzuhaben. Dabei erwerben sie die Fähigkeit, das breite Spektrum von Wirklichkeit wahrzunehmen und theologisch zu reflektieren, alevitische Deutungen mit anderen zu vergleichen, die Wahrheitsfrage zu stellen und eine eigene Position zu vertreten sowie sich in Freiheit auf religiöse Ausdrucks- und Sprachformen (zum Beispiel Symbole und Rituale) einzulassen und diese mitzugestalten. Der Erwerb der religiösen Kompetenz steht im Mittelpunkt des Alevitischen Religionsunterrichts. Die Schülerinnen und Schüler lernen, die alevitischen Begriffe zu verstehen und mit eigenen Erfahrungen und Emotionen in Beziehung zu setzen. Dabei bedienen sie sich der alevitischen Musik, der Bilder und der Literatur.
Der Alevitische Religionsunterricht teilt die inhaltsbezogenen Kompetenzen in drei Bereiche ein:
- Mensch
- Haus und Ordnung
- Weg
Diese Einteilung macht deutlich, dass der Alevitische Religionsunterricht die Aufgabe hat, die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler und die Glaubenstraditionen der alevitischen Gemeinschaft als Ganzes im Unterricht so miteinander zu verknüpfen, dass Handlungswissen entsteht, das auf das konkrete Leben bezogen ist. Dieses Prinzip der Verknüpfung gilt für jede thematische Einheit im Einzelnen. Eine bloße Vermittlung von religiösem Wissen ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit gibt es im alevitischen Religionsunterricht ebenso wenig wie bloße Soziallehre oder Ethik ohne Bezug zur Glaubenslehre des Alevitentums.
In den inhaltsbezogenen Standards wird stets eine Verknüpfung zu den prozessbezogenen Standards hergestellt. Die Deutungskompetenz beschreibt die Fähigkeit, Quellen früherer und gegenwärtiger Generationen und anderen Kulturen – insbesondere Texte der alevitischen Gesänge – zu verstehen und auf Gegenwart und Zukunft hin auszulegen. Eine weitere Vernetzung besteht durch die alltägliche Begegnung mit anderen Religionen und Kulturen, durch die die Schülerinnen und Schüler Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Alevitentum erkennen. Sie lernen diese zu respektieren und zu akzeptieren und können so die Dialogfähigkeit fördern und stärken.
1.3 Didaktische Hinweise
Aufgaben des Alevitischen Religionsunterrichts ergeben sich wesentlich aus dem Selbstverständnis der alevitischen Glaubenslehre. Die Alevitische Religionslehre berücksichtigt die Erfahrungen und Interessen der Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße, indem sie Möglichkeiten schafft, den Glauben zu erleben und die Wertvorstellungen ihrer Glaubensgemeinschaft angemessen zu vertreten.
Die Unterrichtsgestaltung ist darauf ausgerichtet, Fähigkeiten zu fördern, die den Kindern helfen, die Welt und das Leben sensibel wahrzunehmen, zu bestaunen, zu befragen und zu deuten. Dafür ist selbsttätiges und kooperatives Lernen mit allen Sinnen erforderlich, das durch Lernarrangements und eine vorbreitende Lernumgebung ermöglicht wird. Außerdem sind vor allem die bereits vorhandenen Fähigkeiten und Neigungen der Kinder im Bereich des Darstellens, Malens, Musizierens, Tanzens besonders geeignet, um die eigenen Selbstbildungsprozesse zu unterstützen. Im feinen Hinhören, in der differenzierten Wahrnehmung, in Aufmerksamkeit und Konzentration können die Schülerinnen und Schüler ein vertieftes Verständnis für den alevitischen Begriff von Gott (Hak) und den entsprechenden Begriff vom Menschen (Can) entwickeln. Alevitische Musik ist hier von besonderer pädagogischer Bedeutung.
Es ist die Aufgabe der Lehrkräfte, unterschiedliche Sichtweisen bei den Schülerinnen und Schülern zuzulassen. Dabei übernehmen sie eine Vorbildrolle in der Erziehung zu Respekt und Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Intoleranten Haltungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler wird deutlich und konsequent, aber stets pädagogisch reflektiert, entgegengewirkt.
Der Alevitische Religionsunterricht kann und sollte auch an außerschulischen Lernorten stattfinden. Von besonderer Bedeutung sind dabei Besuche von Cem-Häusern und alevitischen Kulturzentren. Gelegenheiten für derartige Besuche kann das gemeinsame Feiern religiöser Feste (zum Beispiel Hızır und Aşure) sein.
Lernmethode
Die Lernmethoden werden so ausgerichtet, dass die individuellen Begabungen eines jeden Kindes optimal zur Entfaltung gebracht und die Erfahrungen und Interessen der Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße berücksichtigt werden. Deshalb sind Differenzierungsangebote ein wichtiges Unterrichtsprinzip. Durch innere Differenzierung wird den unterschiedlichen Stärken, Interessen und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler sowie der Heterogenität der Lerngruppen – besonders im Bereich des Deutungswissens – Rechnung getragen. Durch eine angemessene innere Differenzierung können Kinder ihrem Leistungsniveau entsprechend lernen.
Lernentwicklung
Wesentliches didaktisches Kriterium für eine stufenspezifische Reduktion der Themen ist die Berücksichtigung der Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler. Insbesondere in den Klassen 1 und 2 wecken erste Begegnungen mit dem Fach Alevitische Religionslehre Interesse, Neugierde und Freude. Hierbei wird das Augenmerk darauf gelegt, dass die Inhalte spielerisch erfasst werden können, um die Schülerinnen und Schüler für das Fach zu sensibilisieren und zu motivieren. Diese geschaffenen Grundlagen werden in den Klassen 3 und 4 erweitert und vertieft. Der Schwerpunkt liegt dann beim Wissenserwerb und bei der emotionalen Wahrnehmung.
Soziales Lernen
Kinder lernen insbesondere durch Vorbilder und an Modellen, die durch ein beziehungsstiftendes Lernen ihre Bedeutung erfahren. Lernen – ob kognitives, emotionales oder instrumentelles Lernen – ist immer auch soziales Lernen. Vor diesem Hintergrund wird der Gestaltung des Unterrichts dem gemeinsamen und kooperierenden Lernen unterrichtsorganisatorisch mindestens genau so viel Raum gegeben wie dem individuellen Wissenserwerb der Kinder.